Es ist Februar und der Algorithmus spült mir die Daten der verlegten "Tristan Brusch"-Tour in die Timeline. Sein 2021er Album "Am Rest" hat es mir ziemlich angetan und so ein Live-Abend wär' schon fein. Ein merkwürdiges Gefühl sagt mir, dass der Termin in Hannover nicht passen wird, obwohl mein Kalender an diesem Tag noch leer ist. (Später wird sich herausstellen, dass ich an diesem Juli-Tag bei einer Beerdigung sein werde ... schon merkwürdig diese Eingebungen.) Ich entscheide mich also für das Clubkonzert in Paderborn. Das sind nur 140 km und ich kann den Trip mit einem Bonusfamilientreffen verbinden. Jetzt muss ich meinen Kolleg*innen nur noch einen freien Tag abschwatzen, aber das dürfte bei einem Blick auf mein Überstundenkonto kein Problem werden.
September 2022 - es ist Sonntag und ich bin am Ende eines 3-Tage-feiern-Wochenendes angekommen, es ist also emotionales Wellenreiten angesagt. Aus dem geplanten Treffen mit meiner Bonusschwester wird leider nichts ... Erkältungen sind voll doof. Bei bestem Spätsommerwetter mache ich mich am Nachmittag auf den Weg nach Paderborn. Je nach Planung und Angebot bringe ich es im Schnitt auf 50 Konzertbesuche pro Jahr, doch Tage wie heute sind immer noch sehr besonders. Wenn ich zum ersten Mal zum Konzert eines/r Künstler*in oder Band fahre, fühle ich mich ein bisschen wie beim ersten Date ... meine Gefühle sind irgendwie total intensiv, aber auch sehr durcheinander.
Bei den vielen Baustellen ist es für mich als Orientierungs-Legasthenikerin gar nicht so einfach das "Wohlsein" zu finden, aber irgendwie gelingt es und mein erste Gedanke beim Betreten des Ladens ist, "OMG ... ist das niedlich hier". Auf dem Weg an die Bar klebe ich bei jedem Schritt kurz fest. Das erinnert mich an die Dorfdisko, in die wir früher immer gegangen sind. Solche Sachen stören mich normalerweise nicht, aber hier müsste dringend mal feucht durchgewischt werden. Das Quietschen der Schuhe ist nämlich so laut, dass der spätere Musikgenuss dadurch gestört werden könnte, und dass kann nun wirklich niemand wollen.
Punkt 20 h beginnt endlich der musikalische Teil des Tages. Den Auftakt macht das Nürnberger Duo "Nun flog Dr. Bert Rabe" und die beiden eröffnen mir neue musikalische Welten. Ein E-Piano, eine
Violine und eine Sängerin mit einer unfassbaren Stimme unterlegen Texte, die einen sehr präzisen Blick auf diese traurige, teils grausame und doch so schöne Welt haben.
Bezaubert von diesem minimalistischen musikalischen Traum lasse ich mich in die Geschichten fallen und lerne viele interessante Menschen kennen. Den #maulwurfmann, der die Welt unterhöhlt und die
#papierfliegerfrau, die alles, was sie sieht, aufschreibt und aus den Blättern Papierflieger bastelt. Letztere erinnert mich ein wenig an gestern Abend und Volkers Paper Aeroplane.
Grausam geht es zu bei der #vogelscheucheimkarpfenteich, mehr davon #einandernmal ... versprochen, denn erstmal muss mit dem Tod getrunken werden. Ein Mann baut #dosenpuppen, um all die alten
Freunde zu erinnern und angeblich weiß jeder, dass man mit #klebeband eben doch nicht alles kleben kann. Dabei weiß doch jedes Kind, dass es nichts gibt, das Gaffa nicht zusammenhält und manch
einer hat schon versucht eine Wüstenspringmaus mit Tesafilm zu kleben. Mit #alteshaus verabschiedet sich das Duo und wir entlassen die beiden mit tosendem Applaus von der Bühne. Die zwei haben
mich echt beeindruckt, die würde ich mir jederzeit wieder live anhören.
Die Umbaupause auf der Bühne dauert ein lange halbe Stunde oder auch nur einen Wimpernschlag ... alles eine Frage der Perspektive. Meine Perspektive wird urplötzlich von einer Gruppe Menschen,
Typ Lehrer*innen, getrübt ... alle über 1,70m. Und natürlich stellen sie sich direkt in meinem Blickfeld vor der Bühne auf, ich habe gerade kein jugendfreies Wort, um meinen Gefühlen Ausdruck zu
verleihen.
Aber als Tristan Brusch die Bühne betritt, ist all mein Groll wie weggeblasen und ich erinnere mich seiner Worte " ... mit meiner Kleinwüchsigkeit, die mir halt ausgezeichnet steht ...".
Ich mache das Beste aus der Situation und einer der mutmaßlichen Le(e)hrkörper gibt dann doch den Blick auf die Bühne frei. Vor zwei Wochen hat Tristan bei Insta gepostet, dass er heute
Geburtstag hat und ich warte gespannt darauf wieviel Bock er heute auf Arbeit hat.
Tristan Brusch ist diese Art Mann, denn viele Regisseure wohl als "der exzentrische Künstler im französischen Café" besetzen würden. Allein seine Erscheinung ist faszinierend, seine Ausstrahlung
raumerfüllend und dann ist er auch noch so ein fabelhafter Texter und Musiker. Er übt eine nicht greifbare Faszination auf das Publikum aus und seine Texte sind einfach einzigartig. Tristan
Brusch fasst die Lyrik der Gosse in Worte und spuckt sie dahin zurück, er erzählt von Liebe, Vertrauen, Verrat und Irrsinn. Und all das kleidet er heute in die minimalistischen Sounds von
Akustik- und E-Gitarre und Piano. Ich bin schockverliebt in diese Musik und versinke in #einerliebtimmermehr und #fisch. #zweiwunderamtag lässt mich schweben und ich bin sehr sicher, dass heute
nichts schlechtes mehr passieren kann. Die verstörten Blicke der vor mir stehenden Menschen bringen mich zum Schmunzeln, die gucken so furchtbar erwachsen auf die Welt.
Wir singen anlässlich Tristans Geburtstag ein kleines Ständchen und ich ärgere mich über die mutmaßliche Pädagogengruppe, denn die sind irgendwie nicht mit dem Herzen dabei. Dafür singt der Rest
des Wohlsein-Publikums den ganzen Abend fleißig mit und macht Tristan damit sehr glücklich. Irgendwo zwischen #ichlassdichnielos und #neujahrsschnee entledigt sich Tristan seines Hemdes, was der
jüngere weibliche Teil des Publikums anscheinend sehr gut findet. Die Art wie Tristan auf der Bühne agiert erinnert mich ein wenig an Klaus Kinski ... sehr scharfsinnig und auch ein bisschen
irre, aber in jedem Fall verloren in der eigenen Kunst.
Bei #zuckerwatte ist das Wohlsein von einem wunderbaren Mitsingchor erfüllt und Tristan mag das Publikum. Scheinbar sind wir eines der guten Publikümer (wie der Nailz immer sagt). Denn
wir lauschen andächtig, wenn es angebracht ist, wir applaudieren an den richtigen Stellen und wir singen mit, wenn es zum natürlichen Fluss der Musik passt. Ich schwebe förmlich durch die Musik
und mein Herz hüpft während sich die Songs aus dem Album Am Rest die sprichwörtliche Klinke in die Hand geben. Als #derabschaum stehen wir neben der Gesellschaft und wenn die Liebe
uns verlässt, halten wir uns fest ... #amrest. Ich bin gerade #soweitweg und Tristans Worte zu #2006 erklären mir endlich, warum dieser Song mich gleich beim ersten Hören so sehr berührt
hat. Zwischen #diemoritätvomschweighöfer und das #loch mischen sich neue Songs und ich kann mich der Sogwirkung dieses besonderen Musikers einfach nicht entziehen. Tristan spielt uns eine
mörderische Ballade und #daslebenistsoschön. Und weil hier gerade alles so schön ist, bekommen wir noch zwei Zugaben. Ich wünschte die Losung #bleibdocheinfachhier könnte wahr sein. Nach zwei
Stunden Musik und Brause muss ich kurz raus und renne auf dem Rückweg beinahe in Tristan rein ... das Leben könnte nicht absurder sein.
Normalerweise würde ich noch bleiben und auf ein Autogramm hoffen, aber ich muss noch zwei Stunden durch die Nacht, um zu Hause anzukommen. Ich mache mich also schweren Herzens direkt auf den Heimweg. Im Autoradio läuft meine Lieblings-Playlist und der Zufallsgenerator spuckt eine vollkommen verrückte Mischung aus. Passender Weise dröhnt irgendwann Gisbert zu Knyphausen durchs Auto.
"Alle sind stumm bis auf das Radio - Und auf der Gegenfahrbahn - Lichter, die aus dem Dunkeln sich verirren - Es geht mir gut, es geht mir sehr, sehr gut ... Aus unseren schäbigen, alten Boxen strömen die Lieder - Aus vielen, vielen, vielen Jahren direkt in unsere Herzen - Ihre Sänger haben die immer gleichen Losung auf den Lippen - Die Welt ist grässlich und wunderschön." Besser könnte ich diesen Abend auch nicht beschreiben.
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