Benjamin von Stuckrad-Barres neuer Roman "Noch wach" gehört dieser Tage wohl zu den meistbesprochenen Bücher des deutschen Feuilleton. Alle Welt fragt nach den sehr offensichtlichen Parallelen des Romans zu den jüngsten Ereignisse des Medienhauses, das das Altpapier (Zeitung möchte ich es nicht nennen) mit den 4 großen Buchstaben herausbringt. Doch der Autor stellt in jedem Interview heraus, dass zwischen der Fiktion des Romans und den realen Ereignissen um Reichelt und Döpfner eklatante Unterschiede bestehen. Stuckrad-Barre verweist ständig auf die Nuancen der Fiktion und den schwierigen Begriff "Wahrheit". Nach eigener Aussage will Stuckrad-Barre die Frauen in den Mittelpunkt stellen, doch besonders die Kritikerinnen sehen die Welt der mächtigen Männer im Vordergrund. So schreibt zum Beispiel die Zeit-Autorin Iris Radisch: "In Wahrheit dreht sich "Noch wach?" ausschließlich um Männer. Um Günstlingswirtschaft, um Männerkämpfe, um Männerrache, um Männerliebe. Und das alles ausgetragen auf dem Rücken der Frauen, die dazu herhalten, dass Männer sich ein weiteres Mal so unfassbar spannend mit sich selbst beschäftigen."
Als ich mir im Dezember '22 das Ticket für die heutige Lesung gekauft habe, war von Noch wach? noch keine Rede. Ich hatte einfach Lust auf einen Abend mit diesem unfassbaren Typen auf
der Bühne. Seit seinem Debütroman Soloalbum bin ich Fan dieses unkonventionellen Schreibstils ... unverstellt, ungekünstelt, klar und doch so verschlungen. Nie weiß frau beim Lesen so
ganz genau, wo die Fiktionalität des Ich-Erzählers endet, und der biografische Stucki beginnt. Und dann erst die Stimme von Stuckrad-Barre in den Hörbuchfassungen ... einfach der Wahnsinn. Meine
Lieblingsbücher sind bisher Panikherz und Alle sind so ernst geworden, die gemeinsamen Unterhaltungen mit Martin Suter. Doch heute heißt es in Hannover Noch wach? ...
Stuckis Insta-Story aus dem Pavillon ist vielversprechend, denn er hat seine Story mit Thees Uhlmanns Was wird aus Hannover hinterlegt.
Der Pavillon ist ausverkauft, doch ich finde einen guten Platz in Reihe 2 und beobachte das wuselige Treiben um mich herum. Die Bühne ist minimalistisch ausgestattet und geschäftige Menschen
bringen allerlei Dinge, die auf dem Lesepult noch fehlen. Gegen 20 h wird das Licht gedimmt, das Gemurmel der Menschen wird leiser, Spannung liegt in der Luft und aus den Boxen dröhnt ein
dramatisches Intro. Und zu den Klängen von Falcos Out of the Dark erobert Benjamin von Stuckrad-Barre die Bühne. Ich frage mich kurz, warum Stuckrad-Barre in die Schublade Pop-Literatur
einsortiert wird, denn sein Auftritt hat große Rockstar-Attitüde. Da steht er nun, dieser große dünne Kerl im typischen Ringelshirt, weißer Hose und weißen Sneakern. Unfreiwillig denke ich an
eine ADHS-Patienten auf Speed, doch Stucki scheint Kraft und Sicherheit aus dem Begrüßungsapplaus zu ziehen. Dieser Typ ist eine Mischung aus Rockstar (Udo hat über die Jahre abgefärbt), Träumer
und liebenswertem Schwindler, dem die Jahre im Drogenrausch sehr zugesetzt haben.
Stucki zündet sich gleich erstmal eine Zigarette an ... ein bisschen unfair, denn wir werden nicht einmal eine Pause bekommen. Rauchen auf der Bühne muss einfach als Teil der Performance deklariert werden, dann ist es halt erlaubt. Doch jede Person im Publikum darf ebenfalls rauchen, man muss dafür einfach nur auf die Bühne kommen. Eine Pause wird es nicht geben, die macht Stucki wohl irgendwie irre.
Stucki beginnt den Vorlese-Teil mit Kapitel 1 Dann müssen sich die Frauen auch nicht wundern. Wir lernen eine recht naive junge Frau kennen, die bei ihren ersten Schritten in einem
großen Medienhaus leicht ins Stolpern kommt und von der anfangs väterlich-freundschaftlichen Figur des Chefredakteurs aufgefangen wird. Als Frau in einer von Männern dominierten Arbeitswelt ahne
ich, wohin diese unselige Reise führen wird, und dass hier mehr Realität als Fiktion im Spiel sein könnte. In Anlehnung an Oscar Wilde frage ich mich, ob das Leben die Kunst imitiert oder
umgekehrt. Stucki ist immer noch ziemlich hibbelig und leicht abgelenkt. Noch wach? ist auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stucki ist also vor seinem Freund Martin Suter, doch bald
ist Leipziger Buchmesse und viele Autor*innen veröffentlichen in diesen Tagen. Aktuell könnten wohl nur Dora Held oder Sebastian Fitzek Stucki von Platz 1 zu vertreiben.
Der Tag in Hannover war kalt und trübe, April halt, aber Stucki meint wir bräuchten etwas Wärme und nimmt uns in Kapitel 2 City of Stars mit nach L.A. Am Pool des Chateau Marmont lernen
wir einen verrückten Haufen Aussteiger*innen und Künstler*innen unterschiedlichster Couleur kennen. All diese Figuren scheinen auf der Flucht vor irgendetwas zu sein ... in der Hauptsache fliehen
wohl alle vor der harten Realität. Mit der Figur der Rose McGowan richten sich die literarischen Scheinwerfer erstmals im Roman auf das Thema #MeToo und eine Frauenfigur namens "Basketballs"
schafft die erste Querverbindung zum aktuellen Skandal im Springer-Medienhaus.
Eine handvoll Raucher*innen finden sich auf der Bühne ein und Stucki unterbricht die Lesung, um die unangemeldeten Gäste zu begrüßen und ein wenig zu plaudern. Es werden Feuerzeuge getauscht und Fotos sollen natürlich nicht von unten gemacht werden, das ist nämlich mega unvorteilhaft. Doch zurück nach L.A. und diese nächtliche Pool-Gemeinschaft erinnert doch sehr an die verrückte Tee-Gesellschaft aus Alice im Wunderland. Und dann ist da noch der Freund des Ich-Erzählers, der einem nach intensiver Lektüre der Berichterstattung über Herrn Döpfner sehr bekannt vorkommen könnte.
Zwischen den Vorlese-Passagen schweift Stuckrad-Barre immer wieder ab ... oft geht es um den psychologischen Effekt von schlechten Vorverkaufszahlen. Es fallen Sätze, die morgen besser nicht in der HAZ stehen sollten.
Wir springen im Buch weiter und finden uns in einer Berliner Selbsthilfegruppe wieder. Der Ich-Erzähler und die weibliche Hauptfigur Sophia sitzen bei einem Kiba zusammen und analysieren das Machtgefälle zwischen Männern und Frauen am praktischen Bespiel in genanntem Medienhaus. Der Ich-Erzähler scheint hin- und hergerissen zwischen Fremdscham, Mitgefühl und Erstaunen über den weiblichen Blick auf die Welt. Männer und Frauen leben in sehr unterschiedliche Realitäten und die verschränken sich mit der Fiktion der Romanwelt.
Und hier knüpft dann wohl auch die vielseitige Kritik am Roman an. Ist der Roman der öffentliche Befreiungsschlag von der Männerfreundschaft zwischen Stuckrad-Barre und Döpfner? Oder doch der vielbeschworene Schlüsselroman.
Mit einem Wimpernschlag sind 2 Stunden vergangen und Benjamin von Stuckrad-Barre badet sichtlich dankbar im Applaus. Es wird ein bisschen sentimental, Stucki spricht voller Liebe und Dankbarkeit
über seine Leser*innen, besonders die, die ihm seit seinem Debütroman folgen und durch alle Höhen und Tiefen (Kritiker-Liebling oder Absturzkind).
Als Zugabe gibt es zwei Mail-Anfragen und wir sollen abstimmen, welches Angebot Stucki annehmen soll. Die Einladung zum einem Event ins KaDeWe oder die Interviewanfrage der Bild-Redakteurin?
Sorry, aber Redakteurin bei der Bild? Mache Frauen sind sich für nichts zu schade. Natürlich entscheidet das Publikum für die KaDeWe-Geschichte.
Ich würde mich ja gern noch für ein Autogramm anstellen, aber morgen ist wieder Alltag angesagt und die Schlange ist wirklich lang. Also mache ich mich auf den Weg nach Hause und stolpere direkt vorm Pavillon über Enzo Briskorn ... irgendwie absurd, den kenne ich eigentlich nur auf der Bühne, wo er selbst liest (aus einer Jim Morrison-Biographie) und singt.
Klappentext zum Roman:
Berlin: Eine junge Frau erzählt von ihrem neuen Job bei einem großen Fernsehsender, von ihrem neuen Chef, ihrem neuen Leben. Sie wirkt glücklich, beseelt, hoffnungsfroh, es klingt gut. Zu gut?
In Los Angeles geht derweil eine Welt unter. Ein Mann, der damit prahlt, als Berühmtheit könne man sich gegenüber Frauen alles herausnehmen, wird Präsident der Vereinigten Staaten. Im Garten des legendären „Chateau Marmont“, diesem Nachtspielplatz verwöhnter Hollywood Kids jeden Alters, vertreibt sich eine illustre Bande auf der Flucht vor der Realität die Zeit. Auch der Erzähler ist hier – und Rose McGowan, die Schauspielerin, der man nachsagt, neuerdings irgendwie anstrengend geworden zu sein.
Kurz darauf erschüttert der Weinstein-Skandal Hollywood, und Rose McGowan ist eine der ersten Frauen, die sexuelle Belästigung durch den bis dahin von ganz Hollywood hofierten Filmproduzenten öffentlich gemacht hat. Rose verschwindet, aber sie hinterlässt dem Erzähler eine kryptische Nachricht – oder ist es vielmehr ein Auftrag? Wieso wendet sie sich ausgerechnet an ihn?
Von Hollywood aus verbreitet sich die #MeToo-Bewegung um die ganze Welt. Doch die alten Machtstrukturen sind widerständiger, als man in der ersten Euphorie vielleicht denken mochte.
Zurück in Berlin findet sich der Erzähler nicht mehr nur als Liegestuhlbeobachter, sondern nun als Akteur mitten in einem unübersichtlichen Geschehen wieder, das ihn in einen tiefen persönlichen Konflikt stürzt.
Noch wach? ist ein Sittengemälde unserer Zeit, ein typischer Stuckrad-Barre. Literarisch brillant, humorvoll und kompromisslos erzählt dieser Roman von Machtstrukturen und Machtmissbrauch, Mut und menschlichen Abgründen.
Kommentar schreiben